Ladenhüter

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POP-UP vom 01.09. – 29.10.2023

»Abgesehen vom Gartenzimmer ist jeder verfügbare Wandraum in allen Räumen des Ladens mit Bücherregalen gefüllt und diese wiederum sind – bis auf die erwähnten Lücken – gut gefüllt, was nicht nur einer beachtlichen Menge an Büchern Unterkunft bietet, sondern auch diese wunderbare Atmosphäre schafft, die mit nichts zu vergleichen und daher schwer zu beschreiben ist: es riecht nach Papier, nach Druckerschwärze und Staub (was auf eine schlechte Angewohnheit des Ladens zurückgeführt werden muss, denn wo Mrs Campbell putzt, gibt es keinen Staub) und nach etwas Unbenennbarem. Wenn es nicht so lächerlich klingen würde, würde ich sagen: es riecht nach Zeit.«

Fast drei Jahre hat der Buchhändler Lucian Green allein und ohne einen einzigen Kunden in Harris’ Bookshop in London verbracht, nur damit beschäftigt, nach und nach wirklich jedes Buch in den Regalen zu lesen – da betritt überraschend ein gewisser Albert den Buchladen. Von diesem an sich banalen Vorgang „Kunde betritt Laden“ behauptet Lucian zu Beginn des Romans, er habe sein Leben aus dem Lot kippen lassen und zählt, wie zum Beweis, eine ganze Kette an Ereignissen auf, die von diesem Moment losgetreten a) einige Unruhe in den Laden tragen und b) Lucian zwingen, nach und nach seine selbstgewählte Einsamkeit aufzugeben. Quasi unterwegs entpuppen sich außerdem jede Menge Umstände als ganz anders als angenommen und jede Menge Fragen wollen mit einem Mal beantwortet werden: wer genau ist eigentlich Mr Harris? Wann bitte putzt Mrs Campbell? Erfährt man mehr von einem Menschen, wenn man mit ihm redet oder wenn man mit ihm schweigt? Haben sie Lorenzini gelesen? Wie antwortet man auf Fragen, mit denen man nicht gerechnet hat? Tragen Touristen wirklich komische Schuhe? Wie lebt man sein Leben, wenn es aufhört, vorhersehbar zu sein? Und wie erzählt man eine Geschichte, ohne dabei in die eines anderen zu geraten?


»Sicher, man könnte sich einlullen lassen von diesem Erfolg – und von der Normalität, die er ausstrahlt.
Es wäre sogar denkbar, dass sie sich fragen, ob diese Geschichte ihren Höhepunkt nicht bereits überschritten hat. Sie könnten dabei a) geltend machen, dass unbestreitbar eine gewisse Ordnung in mein Leben zurückgekehrt war und sich b) ein wenig missmutig überlegen, ob das bisher Erzählte den Aufwand des Zuhörens überhaupt gelohnt hat. Für diesen letzten Fall gebe ich ihnen noch ein c) mit: sie sind voreilig: das bisher Erzählte ist kaum mehr als ein Prolog.
Wobei ich unumwunden zugebe, dass ich ebensowenig auf mehr gefasst war wie sie – obwohl der Anfang im Rückblick durchaus mehr zu erwarten erlaubt – und ich betone, dass auch ich mich – und nur allzu bereitwillig – von den Ereignissen habe einlullen lassen. In den Wochen nach Charlenes Geburtstagsessen wähnte ich mich tatsächlich angekommen in den Neuerungen. Ich las Bücher, sprach über Bücher, verkaufte Bücher, bestellte Bücher, füllte das Kassenbuch, die Kasse und das Konto von Mrs Harris. Zwei Mal aß ich nach Ladenschluss mit Albert im Pub ein Stück die Straße runter. Bei einem weiteren Treffen kochten wir nach einem Rezept seines Gemüsehändlers und aßen das Ergebnis tapfer mit Eddie und Charlene zusammen auf. Vermutlich eine Folge dieses Abends war, dass die Wochen sogar einen Höhepunkt vorzuweisen haben: Charlene besuchte mich im Bookshop. Logischerweise war sie hauptsächlich auf der Suche nach Büchern, zwischendurch tranken wir aber auch Tee miteinander und Charlene hatte sich einen neuen Haarschnitt für mich ausgedacht, den ich höflich ablehnte und zwar mit einer Begründung, die aus meiner heutigen Sicht wirklich ein Witz war: mir stehe der Sinn › nicht nach was Neuem ‹ sagte ich zu Charlene und heute muss ich dazu leider sagen: man kann schon extrem danebenliegen, wenn man denkt, die Dinge im Griff zu haben.
Ich lag so völlig daneben, wähnte mich so vollständig angekommen in meiner neuen Alltäglichkeit, dass ich an einem Freitagabend beim Abschließen absichtslos an der Fassade emporblickte und feststellte, dass alle Fenster des oberen Stockwerks offen standen – meines Wissens nach das erste Mal in den sage und schreibe zwei Jahren, elf Monaten und fünf Tagen, die ich damals in Harris’ Bookshop arbeitete – und diese Tatsache ließ mich völlig ungerührt. Ich war wirklich überzeugt, mein Leben würde davon kaum beinflusst werden. Schließlich gibt es immer mal wieder neue Nachbarn in der Straße. Von zufälligen Passanten sind sie leicht zu unterscheiden durch die unvermittelte Häufigkeit, mit der sie an den Bookshopfenstern vorbeikommen – wobei sie anfangs meist unregelmäßig erscheinen und erst allmählich in einen Rhythmus hineinwachsen, der nach ein paar Wochen auch Teil meines Alltags wird und nach einiger Zeit gehören diese Menschen für mich ebenso selbstverständlich zum Straßenbild wie die Boutique mit den schrillfarbigen Kleidern gegenüber. Im speziellen Fall der offenstehenden Fenster über dem Bookshop begriff ich a) dass sie – nach der langen Zeit allein im Haus – neue Bewohner nahelegten, bezweifelte b) gleichzeitig mit einiger Unvernunft ihre Existenz, während mir c) in dieser unnachahmlich paradoxen Art, in der wie Menschen denken können, vollkommen folgerichtig erschien, dass – zusammen mit alle den anderen Veränderungen − auch das Stockwerk über dem Bookshop bewohnt werden sollte. Hat unser Bemühen, die Tatsache, dass nichts für sich steht, permanent in diese kleinlichen › wenn-dann-Zusammenhänge ‹ zu zwängen, nicht etwas rührend unbeholfenes an sich? Was ich eigentlich nur sagen wollte ist, dass ich keinerlei Veranlassung fand, über die offenen Fenster länger nachzudenken und die Angelegenheit nach wenigen Schritten vergessen hatte.

Aus diesem Grund brachte ich die Gestalt einer Frau, die ich am nächsten Morgen – nur Sekunden nachdem ich Harris’ Bookshop betreten hatte – am Gartentisch im Innenhof sitzen sah, in keiner Weise mit den offenen Fenstern in Beziehung. Eine Beziehung mit der offenen Gartentür des Bookshops ließ sich dahingegen schlecht leugnen. Wie festgewachsen blieb ich im mittleren Raum stehen, starrte auf das Profil der Frau und versuchte fieberhaft mich zu erinnern, ob ich am Vorabend die Gartentür versehentlich unverschlossen gelassen hatte. Klar und deutlich erinnerte ich mich, sie wie immer sorgfältig abgesperrt zu haben – und war meiner Sache sicher, obwohl sie vor meiner Nase unwiderlegbar offenstand und damit mein Gedächtnis Lügen zu strafen schien. Bedauerlicher Weise handelte es sich bei der Frau nicht um Mrs Campbell, die ja einen Schlüssel zur Verfügung und mit ihm eine Erklärung für die offene Tür gehabt hätte. Selbst wenn man in Betracht zog, dass meine Erinnerung an Mrs Campbell ein wenig veraltet war, war die Frau am Tisch auf jeden Fall zu jung.«


Fakten

alle Texte © Marion Oelmann, 2023

Ladenhüter (Taschenbuch, ca. 650 Seiten) 29.- Euro (zzgl. 4.- Euro Versandkosten)

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