Schubladenedition

Die Schubladenedition macht eine Auswahl erzählerischer Texte zugänglich, die im Laufe der Jahre ’nebenher‘ entstanden und umständehalber in der Schublade gelandet sind – obwohl sie dafür nie gedacht waren.


Alltagsmaerchen“Ich habe immer zwei Filme abwechselnd gezeigt. Immer den einen und dann den anderen. Nicht, weil es so besondere Filme gewesen sind. Ich hatte einfach nur die beiden. Die waren bei dem Projektor, als ich ihn gefunden habe. Erst wusste ich gar nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Ich hatte ja keinen Strom. Und auch kein Kabel, mit dem ich mir welchen besorgen konnte. Irgendwie hat mir nur die Idee gefallen, dass auf den endlosen Rollen Geschichten zu sehen sind.“
aus: Zitronenmond

“Der Mann sieht auf den Zettel am Rand des Lichtkreises. Er kann nicht anders. Die leichte Bewegung des weißen Rechtecks zieht seinen Blick magisch an, aber er erkennt in dem Zettel nicht den, den er kennt. Ungerührt lässt er seinen Blick weiterschweifen. Fragt sich nicht, warum das Papier jetzt da liegt, wo es liegt – und nimmt sich damit jede Möglichkeit zu verstehen. Nur den Schauer auf seiner Haut bemerkt er, den der Atemwind ihm darüberjagt. Deshalb zieht er den Kopf zurück und schließt das Fenster.“
aus: Ohne Titel

Bekanntlich ist der Alltag kein Märchen. Nichtsdestotrotz gibt es auch im Alltag Begegnungen, die einem Märchen so nahe kommen, wie die Realität es zulässt …


Der Koffer“Die Unterhose, das Nachthemd, die konnte sie zur Not erklären, aber die Strümpfe, die Schuhe, das hatte nichts mehr mit Not zu tun. Keine Jeans tragen zu wollen, war keine Not.
Sie ging zum Fenster, sah hinunter. Niemand nahm von ihr Notiz. Von der Frau am Fenster, mit den Strümpfen einer Fremden am Körper. Das beruhigte sie seltsamer Weise. Sie ging ins Bad. Begann sich die Lippen zu schminken. Dachte daran, dass ja niemand wusste, dass der Koffer bei ihr war.“

Der Koffer ist blau, kratzerlos, sieht genauso aus, wie der den sie gerade neu gekauft und sorgfältig gepackt hat, stellt sich im Hotelzimmer aber als Koffer einer anderen Frau heraus. An dieser Erkenntnis zerbröselt der minutiöse Plan, den die junge Wissenschaftlerin für die Tagungswoche aufgestellt hat. An seine Stelle muss nun Improvisation treten, die auch immer wieder zu den – in vielerlei Hinsicht – fremden Kofferinhalten führt. Zunächst ist das Umgehen mit dem Unerwarteten eine große Herausforderung, entwickelt sich aber zunehmend zum Spiel mit den neuen Gegebenheiten und die Suche nach dem eigenen Koffer rückt dabei immer weiter in den Hintergrund.
Auf der anderen Seite stehen jedoch die Fragen, wie der fremde Koffer zu seinem eigenwilligen Inhalt kam, wie die beiden Koffer vertauscht wurden und vor allem: warum?


Eingeschlossen“Mit dem letzten Stein, der die Mauer zu einer Tatsache machte, begannen meine Füße zu fliehen und meine Gedanken den Versuch zu verstehen. (…) Jetzt schmerzen meine Beine. Meine Gedanken haben sich verwirrt. Irgendwann haben sie die Gradlinigkeit meiner Schritte an der Mauer verlassen. Haben sich auf Wanderschaft begeben zu Orten, an die meine Füße nicht mehr kommen werden.“
aus: Eingeschlossen

“Im Laternenlicht stellte sich das Gefühl wieder ein, auf einer Bühne zu stehen. Obwohl Else niemand sehen konnte, hatte sie den Eindruck, genau beobachtet zu werden. Sie schob es auf die Unruhe. Manchmal jedoch tut man sogar der Unruhe Unrecht, aber das sollte Else erst sehr viel später erfahren.“
aus: Café Endstation

Die Protagonistinnen der Texte sitzen allesamt fest: eine Frau hinter der Mauer, die ihr das Dorf zur Strafe gebaut hat; eine andere in der Wohnungsauflösung ihrer verstorbenen Schwiegermutter; Else in der Verlorenheit des ‚Café Endstation‘; Medusa im tödlichen Fluch der sterblichen Göttin ohne Frisur. Auf ihre jeweilige Situation reagieren sie mit Wut, Reflexion, Phlegma, Sarkasmus und Feingefühl und retten, wenn nichts mehr zu retten ist, doch wenigstens ihre Würde.


Ein Ort zum Sterben“Sein Vater war an dem Tag gestorben, als er geboren wurde. Nicht einen Tag vorher oder einen nachher, sondern genau am selben Tag. Als hätte man ihrer beider Leben ausgetauscht. An ein und demselben Tag hatte seine Mutter einen Mann verloren und einen Sohn bekommen. Wobei sie mit der Geburt des einen so beschäftigt war, dass sie vom Tod des anderen erst Tage später erfuhr. Er hatte sie nie gefragt, wie sie über diesen Tausch dachte.“

Vor dem beinahe unleserlichen Ortsschild von Mürzzuschlag-Hönigsberg treffen der zweite Geiger Adam und der Gedanke aufeinander, wie bestimmend doch für einen Menschen Geburts- und Sterbeort sind, zwischen denen das Leben sich aufspannt. Fortan lassen der Gedanke und Adam nicht mehr voneinander ab, wobei für Adam besonders quälend ist, dass sein Leben im quasi namenlosen Ort Ort seinen Anfang gefunden hat, der Auftakt also – wie er findet – misslungen ist und daher dringend ein Ort zum Sterben gefunden werden muss, der mit diesem Missklang versöhnt. Immer gejagter von dem Schrecken, am falschen Ort zu sterben, sucht Adam nach dem passenden Schlussakkord, was ihn zwingt genauer auf sein bisheriges Leben zu schauen, als ihm lieb ist und sich obendrein mit der Schwierigkeit herumzuschlagen, dass kaum etwas im Leben nach Plan läuft, am wenigsten der Tod. 


Pelaluna“Männeraugen, die gerade noch, ein wenig auf unscharf gestellt, in das Glas in der dazugehörigen Hand starrten, saugten sich nun fest an den Brüsten, dem Hintern und den Beinen der Fremden. Aber auch die Frauen ließen die Teller, die Messer und die Schöpfkellen sinken, mit denen sie das Abendessen bereiteten, traten an die Fenster ihrer Küchen und sahen Pelaluna hinterher, weil sie – mehr noch als die Männer – ahnten, dass an diesem Abend etwas wirklich Neues ihr vertrautes Dorf betreten hatte.“

Die mondhäutige Hure Pelaluna bringt nicht nur die Männer, mit denen sie schläft, in Kontakt mit ihren Träumen, sondern auch die Dorfgemeinschaften gründlich durcheinander, in denen sie sich niederlässt. Anziehung und Abscheu tanzen einen überaus verwirrenden Reigen in den Menschen. Besonders weit reicht die Erschütterung im Leben Magdalenas, einer jungen Frau, die sich unter dem Einfluss Pelalunas selbst zu verstehen lernt und an jenem Punkt auf ihre Geschichte zurückblickt, an dem sie sich selbst gewonnen und ihre lebenslange Liebe verloren hat.


Fakten

alle Texte © Marion Oelmann, 2018

Gesamtedition 50.- Euro (zzgl. Versandkosten)
Einzelband 12.- Euro  (zzgl. Versandkosten)

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