Die Fremden sind weg

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POP-UP vom 03.07. – 16.07.2023
POP-UP vom 24.06.-24.07.2022

“Wenn ich mich gegen einen Fremden wende,
wende ich mich dann gegen das Fremde in ihm
oder gegen den Fremden, den er aus mir macht?“

Ein fiktives europäisches Land hat über Nacht etwa ein Fünftel seiner Bewohner*innen eingebüßt. Alle, die man im weitesten Sinne als “Fremde“ bezeichnen könnte, haben das Land ohne Ankündigung oder Erklärung verlassen. Dementsprechend läuft nichts mehr wie gewohnt. Die Regierung steht vor einem Rätsel – und vor massiven Problemen. In allen Bereichen der Gesellschaft klaffen unübersehbare Lücken, es entstehen Engpässe und unbeholfene Lösungsansätze treffen auf Schuldzuweisungen, Proteste und Gewalt. Die verbliebenen Bewohner*innen sind somit gezwungen, sich mit ihrer Haltung den Fremden gegenüber ebenso auseinanderzusetzen, wie mit der wachsenden Fremdheit untereinander.

Auch neben Ada klafft eine Lücke: zeitgleich mit den Fremden hat ihr Mann Janni sie überraschend und ohne ein Wort verlassen. Allerdings weigert Ada sich, einen Zusammenhang zwischen den beiden Ereignissen zu akzeptieren. In ihren Augen ist Janni kein Fremder. Beharrlich wartet sie auf seine baldige Rückkehr, während sie sich bemüht, mit einer geretteten Katze zurechtzukommen, eine Erklärung für Jannis unerklärliches Verhalten zu finden und die Geschehnisse um sie herum zu verstehen. Allmählich dämmert ihr dabei, dass sie manches übersehen hat, dass das Fremde so viele Fassetten kennt, wie es Reaktionen darauf gibt und dass man sich selbst weit fremder sein kann, als man je für möglich gehalten hätte.


“Leider gelingt mir eine solche Selbstvergessenheit nur mit Julka. Ohne sie tanze ich weiter diesen stupiden Walzer mit den penetranten Fragen.
Hätte ich etwas wissen oder ahnen müssen?
Warum sollten DIE FREMDEN das Land verlassen?
Wer sind diese Menschen?
Warum sollten mein Mann & meine Freunde bei ihnen sein?
WO SIND SIE HIN?
Warum reagiert keiner auf meine Nachrichten?
Warum ist Ali unerreichbar? An ihm kann ich nichts Fremdes finden, egal wie ich es dreh & wende. Kann ich mir denn in der Hinsicht überhaupt noch vertrauen?
Haben sie sich verabredet? Sind sie zusammen?
Haben die anderen etwa gewusst, dass Janni mich verlassen würde?
Wir sind doch Freunde. Da verschweigt man sich doch solche Sachen nicht
oder?
ODER“

•••

“Hinter der Wohnungstür steht Ada und hört wie Alis Schritte auf den Holztreppen nach unten hin leiser werden. Mit dem Verklingen der Schritte nimmt die Stille um sie herum zu. Das ist nur logisch, wenn die Geräusche aus dem Treppenhaus nicht durch andere Geräusche ersetzt werden. Leider verhindert diese Logik nicht, dass die zunehmende Stille für Ada gespenstisch anmutet. Auf dem Rückweg in die Küche ist sie sich des Geräuschs ihrer eigenen Schritte auf dem Parkett seltsam bewusst. Ada wehrt sich gegen die Neigung, auf Zehenspitzen zu gehen. Sie ärgert sich, Ali nicht gebeten zu haben, zum Abendessen zu bleiben. Die Idee ist ihr nicht einmal gekommen. Das ärgert sie noch mehr. Janni ist der gesellige in ihrer Beziehung. Für Gesellschaft werde ich in Zukunft selbst sorgen müssen, denkt sie und ärgert sich auch an diesem Gedanken.

Mitten in der Küche bleibt Ada stehen und sieht sich um. Von außen betrachtet, macht das den Eindruck, als sei der Raum ihr neu. Auf dem Tisch stehen zwei benutzte Kaffeebecher und eine Zuckerdose, daneben eine Schale mit Keksen drin und ein paar Krümeln drumherum. Vor dem Fenster fällt Regen. Einzelne Tropfen treffen die Fensterbank und ergeben ein unregelmäßiges Klopfen. Der Kühlschrank brummt leise. Das Uhrwerk tickt beim Zählen. Ada seufzt und wendet sich dem Kühlschrank zu.“

•••

“Wenn ich meine Notizen der letzten Tage so lese, fällt mir auf, dass ich manche Worte noch immer ganz selbstverständlich benutze, während mir ihre Selbstverständlichkeit eigentlich abhanden gekommen ist. Allen voran natürlich das Wort FREMD. Was genau ist es denn, was jemand zum Fremden macht? Seine Nase, seine Haare, seine Haut, seine Sprache, sein Glaube, seine Feste, seine Rituale, seine Gewohnheiten, seine Überzeugungen, sein Wissen, sein Geburtsort, der Geburtsort der Eltern, der Großeltern, der Urgroßeltern, der Pass, die Aufenthaltserlaubnis, der Zaun zum Nachbargarten, der Stadtteil, der Landkreis, fünf Kilometer, fünfzig Kilometer, hundert – was macht fremd? Ab wo & ab wann ist jemand fremd? Oder anders herum gefragt: ab wann ist jemand kein Fremder mehr? Warum macht das gleiche Kriterium den einen fremd & den anderen nicht? Oder anders gesagt: was mir jemanden fremd machen kann, macht ihn für einen anderen just vertraut. Ist FREMD also nicht nur ein Beziehungswort, sondern obendrein eine Momentaufnahme? Was mich heute fremd macht, muss es mich morgen nicht mehr machen. Oder umgekehrt: wo ich heute noch dazugehöre, kann ich morgen schon eine Fremde sein.“

•••

“In einem Sessel sitzt Ada. Im anderen Sessel liegt Noname. Die Katze gibt sich dem Schlaf hin, Ada der Lektüre. Wovon Noname träumt, muss ein Geheimnis bleiben. Die Zeitungseite vor Ada ist gut lesbar mit »Offener Brief« überschrieben. Adas Blick jedoch wandert nicht über die Zeilen. Er hängt rechts oben im Eck der Seite auf einem Datum fest, das lediglich den aktuellen Tag benennt. An sich nichts Erstaunliches. Jede Zeitung trägt am Tag ihres Erscheinens ein aktuelles Datum mit sich herum. Trotzdem zeigt Adas Miene Verwunderung. Wie eine Bestätigung sinkt die Zeitungsseite zusammen mit den Händen in Adas Schoß, raschelt und verstummt. Nonames rechtes Ohr bewegt sich. Draußen mischen sich weiterhin Zwitschern und Schaben. Drinnen tanzt Staub lautlos in der Sonne. Noname schnarcht, Ada denkt. Auf das Ticken der Küchenuhr achtet – wie üblich – niemand. Auch Ada nicht, die abrupt aufsteht, Noname aufschreckt, die Zeitung auf den Tisch fallen lässt und in die Küche geht. Allerdings nicht, um nun doch auf die Uhr zu sehen, sondern um zwischen den Büchern, die sich auf dem Tisch stapeln, das herauszusuchen, in dem Janni ein Datum neben den unterstrichenen Satz geschrieben hat. Erst schlägt Ada die falsche Seite auf. Beim zweiten roten Zettel findet sie, was sie sucht: das Datum in Jannis akkurater Handschrift stimmt tatsächlich mit dem Tag überein, an dem das Einreisegesetz von der Regierung verabschiedet wurde.“


Fakten

alle Texte © Marion Oelmann, 2022

Die Fremden sind weg (Taschenbuch, 496 Seiten) 25.- Euro (zzgl. 4.- Euro Versandkosten)

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